Donnerstag, 25. April 2024
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Kolumne #37

Nichts geht mehr

„Wo ist denn nur der Schlüssel?“ Ich suche hinter dem Kühlschrank und im Backofen. Ja, es ist peinlich, aber ich muss gestehen, dass ich den Schlüssel genau dort schon einmal gefunden habe. „Irma, hilf mir doch.“ Meine Busenfreundin setzt sich wieder hin. Soll das etwa heißen, ihre Hoffnung, das Haus heute noch verlassen zu können, ist gleich null?

Ich gebe auf. „Ohne Braintraining geht gar nichts mehr“, seufze ich.

„Ach was, Mette. Lösch die Software.“ Gelassen legt sie ein Bein über das andere. „Iss abwechslungsreich stattdessen. Fahr Rad. Oder lerne Italienisch. Das tut deinem Hirn gut. 11 000 Menschen können sich nicht irren.“

Wahrscheinlich hat sie mal wieder eine dieser Studien gelesen, eine mit exakt diesen vielen ProbandInnen. Ich kenne doch meine Irma. Keine Wissenschaft, bei der mich nicht ihr Wissen schafft.

„Sobald ich den Schlüssel habe, lasse ich mich auf Alzheimer testen.“

Irma grinst nur. Was ist los mit meiner Busenfreundin? Es ist doch so. Wehret den Anfängen! Je früher erkannt, desto eher gebannt.

Irma kichert. „Die Wechseljahre sind tückisch. Und sie lassen vieles verschwinden.“

Offensichtlich fehlt heute Ernsthaftigkeit in ihrem Terminkalender.

Ich knurre. „Dann lasse ich eben auch die Sexualhormone messen. Ein bisschen Blut mehr oder weniger kann ich verschmerzen.“

Göttin, unter dem Tisch liegt auch nichts. Bis auf fünf Franken. Gut. Aber nicht gut genug.
„Du kannst genau so gut auf deine Mens achten oder ob du nachts schwitzt. Mette, ich bitte dich. Was soll denn das? Du hast sogar einen Anti-Aging-Test gemacht. Genug ist genug.“

Was ist so schlimm daran, sich auf eine Waage zu stellen, in einen Becher zu pinkeln, Blut abzuzapfen, den Fettanteil bestimmen und sich von einem Computerprogramm durchchecken zu lassen?

„Was du heute kannst bewegen, lässt dich morgen nicht im Regen“, verkünde ich.

Irma zieht eine Schnute. „Was kommt, kommt. Es wird genauso im Fluss sein wie das, was schon war. Das Leben ist nun mal ein Sammelsurium aller Wetterphänomene. Für die gibt es keine Qualitätsstandards. Nur Regenschirme. Und deinen hast du letztes Mal bei mir stehen gelassen.“

Ach, da liegt der. Ich hatte ihn fast nicht vermisst, dazu war das Wetter zu gut. Aber meinen Schlüssel, den brauche ich wirklich.

„Wenn dich die Testerei glücklich macht.“ Irma lacht. „Lass doch dein Genom analysieren. Dann kennst du jedes noch so winzige Risiko für eine Erkrankung. Das wäre eine passende Ergänzung zum Anti-Aging-Test.“

Nimmt sie mich auf den Arm? Sieht sie nicht den Ernst der Lage? Mein Blick fällt auf die Anrichte. Dort stapeln sich bereits die Mittelchen. Mir wird schlecht. Neben den bunten Schächtelchen liegt der Schlüssel. Mit Absicht. Damit ich beides nicht vergesse. Vielleicht sollte ich es doch halten wie die alte Frau Hinterhuber. Die hatte sich beim Arzt über ihre Vergesslichkeit beschwert. Und was sagte der darauf? „Gute Frau, bedenken Sie Ihre Jahre. Sie sind nun einmal kein junges Mädchen mehr. Kaufen Sie sich einen Schlüsselanhänger, der Ihnen zuhört. Und dann pfeifen Sie darauf, dass Sie nicht mehr achtzehn sind.“